Was sind eigentlich Faszien? Und sind Faszien und Bindegewebe dasselbe?
Rudolf Schleip spricht mit Thomas Harms, Psychologe in Bremen, im Podcast “Global Empathy” über das fasziale Netzwerk des Lebendigen und sein Lebensweg als Therapeut, Faszienforscher und Gründungsmitglied der Gesellschaft für Faszienforschung.
Faszie in der klassischen Terminologie
In der klassischen Schulmedizin sind Faszien nur vereinzelte derbe Bindegewebsplatten, die sich in der Obduktion mit dem Skalpell schneiden lassen und deren Fasern in verschiedene Richtungen laufen. Davon ausgeschlossen sind parallel verlaufende Bindegewebsstränge, wie etwa der Tractus iliotibialis, das IT Band an der Aussenseite des Oberschenkels. Diese enge Definition stellt die einzelnen Faszien als isolierte, anatomisch sezierbare Teile dar. Je mehr über die physiologischen und anatomischen Funktionen der Faszien geforscht wurde, desto klarer wurde es, das dieser Begriff dem umfassenden Ganzen nicht gerecht wird. In wissenschaftlichen Kreisen entstand zunehmend das Bedürfnis, den Begriff “Faszie” neu zu definieren.
Fasziale Nomenklatur: Begriffsfindung
Die Gesellschaft für Faszienforschung unterstützte 2014 ein Nomenklatur Komitee, das aus verschiedenen Faszienforschern bestand. 4 Jahre lange dauerte der Prozess der Wortfindung und man einigte sich darauf, 2 verschiedene Begriffe zu definieren: die “Faszie” als anatomisch orientierten Begriff und das “fasziale System”, das das Bindegewebe und die dreidimensionale Vernetzung beinhaltet:
Faszie:
Eine Faszie ist eine Hülle, ein Blatt oder eine andere zerlegbare Ansammlung von Bindegewebe, die sich unter der Haut bildet, um Muskeln und andere innere Organe zu befestigen, zu umschließen und zu trennen.
Das Fasziensystem:
Das Fasziensystem besteht aus einem dreidimensionalen Kontinuum aus weichem, kollagenhaltigem, lockerem und dichtem faserigen Bindegewebe, das den Körper durchzieht. Es umfasst Elemente wie Fettgewebe, Adventitiae und neurovaskuläre Hüllen, Aponeurosen, tiefe und oberflächliche Faszien, Epineurium, Gelenkkapseln, Bänder, Membranen, Hirnhäute, myofasziale Ausdehnungen, Periostea, Retinacula, Septen, Sehnen, viszerale Faszien und alle intramuskulären und intermuskulären Bindegewebe einschließlich Endo-/Peri-/Epimysium. Das Fasziensystem umgibt, verwebt und durchdringt alle Organe, Muskeln, Knochen und Nervenfasern, verleiht dem Körper eine funktionelle Struktur und bietet eine Umgebung, die es allen Körpersystemen ermöglicht, auf integrierte Weise zu funktionieren.
Interozeption und der sichere Raum
Wie auch immer Anatomie und Physiologie gestern, heute und morgen definiert, erlebt und gelebt wird - es bleibt veränderbar und doch verbunden. Denn auch das Fasziensystem ist nicht isoliert, sondern durchwoben mit Blutgefässen, kontraktilen Elementen, freien Nervenendigung und Sinnesorganen, die alle miteinander interagieren. Dieses Zusammenspiel kann durchaus auch emotional geprägt sein. Wir sprechen dann von Interozeption, die Art und Weise, wie wir gefühlsbetont unser Körperbefinden erleben. Für uns als Bodyworker ist es wichtig, zu wissen, dass die Interozeption stark von der Erwartungshaltung unserer Klienten abhängt. Zentral ist es, unseren Klienten ein Gefühl des sicheren, gehaltenen Raumes zu vermitteln, damit eine Veränderung des Selbstempfindens überhaupt ermöglicht wird.
Die Effekte der achtsamen Berührung im therapeutischen Kontext scheint so auch physiologisch und anatomisch immer besser erklärbar zu werden. Es bleibt weiterhin “hochspannend”.
Bescheidenheit und Neugierde
“Gute Wissenschaft ist eine zunehmende Bescheidenheit und eine Bereitschaft zum Nichtwissen.”, meint Robert Schleip und wünscht sich am Ende des Podcasts, dass diese Qualität der “Alice-im Wunderland” ähnliche Entdeckungsfreude sowohl in der Wissenschaft als auch in der Körpertherapie immer wieder von neuem kultiviert wird.
Unbedingt mithören: Podcast-Folge Faszien - Netzwerk des Lebendigen.
Quellen:
Fascial Research Society, about fascia
Fascial nomenclature: Update on related consensus process